Tilmann Knopf: Kap. 2: Fantasy-Rollenspiel - was ist das?

2. Fantasy-Rollenspiel – was ist das?

2.1. Fantasy und Fantasy-Spiele

2.1.1. Fantasy als Literaturgattung – Fantasy als Filmgenre

Fantasy ist “eine Literaturgattung, die sich mit der Beschreibung nicht wirklicher, vom Autor erdachter u. mit mytholog. Versatzstücken versehener Welten befaßt.”.4 Vorläufer der Fantasy kann man etwa im romantischen Dichtermärchen oder in Utopien des 19. Jahrhunderts (W. Morris) sehen.5 Als “Vater” der modernen Fantasy gilt aber der englische Schriftsteller John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973). Er “löste mit der in einer phantast. Mythenwelt spielenden Romantrilogie ‘Der Herr der Ringe’ 1954/55, dt. 1969/70 eine Modewelle der Fantasy-Literatur aus”.6 Autorinnen und Autoren wie Marion Zimmer-Bradley (Die Nebel von Avalon) oder Michael Ende (Momo; Die unendliche Geschichte) haben zu einer großen Popularität dieser Literaturgattung beigetragen. Heute haben zahlreiche große Verlagshäuser Fantasy-Programme in ihrem Sortiment,7 alleine das Angebot von Bastei-Lübbe, das als Beispiel dienen kann, umfaßt ca. 50 Reihen und Zyklen, insgesamt etwa 250 Bände.8 Ein ganz aktueller Trend ist das “Buch zum Spiel”: Zu zahlreichen Rollen- und anderen Fantasyspielen erscheinen in jüngster Zeit eigene Romanreihen.

Vorläufer des modernen Fantasy-Filmgenres produzierte Hollywood bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts (etwa Der Zauberer von Oz mit Judy Garland, 1939). Etwa seit den 70er Jahren gibt es ein eigenes Fantasy-Filmgenre. Zu nennen wären Titel wie “Conan, der Barbar” (mit A. Schwarzenegger) oder “Die unendliche Geschichte” (S. Spielbergs Verfilmung der Romanvorlage von M. Ende). Ebenso gibt es zahlreiche Fantasy-Fernsehfilme und -reihen. So lief etwa zum Jahreswechsel 1995/96 und nochmals im April 1996 im ORF die sechsteilige Fantasy-Reihe “Prinzessin Fantaghiro”. Sowohl in der Literatur als auch im Film gestaltet sich die Abgrenzung zu anderen Genres schwierig. Vor allem die Abgrenzungen zum “historischen” (sind etwa die Robin Hood-Filme von Erroll Flynn bis Kevin Costner nicht eher Fantasy im Sinne der o.g. Definition) und mehr noch zum Science-Fiction-Genre (etwa die “Krieg der Sterne-Saga”) sind problematisch und die Übergänge sicher fließend.


2.1.2. Fantasy-Spiele

Fantasy-Spiele im engeren Sinne nenne ich im folgenden Spiele, die komplexere Fantasy-Hintergründe benutzen, welche für das Spiel selbst auch eine Rolle spielen.9 Soweit ich den Markt überblicken kann, gibt es derzeit folgende Arten von Fantasy-Spielen:

Brettspiele, komplexere Strategiespiele, Computerspiele, Trading Card Games (Kartenspiele), Rollenspiele und Live-Rollenspiele.

Da Rollenspiele von all diesen Spielen am stärksten von Inhalten geprägt sind und auch die für die SpielerInnen intensivste Spielform darstellen, möchte ich mich in dieser Untersuchung auf diese Spiele konzentrieren. Vieles von dem, was über sie zu sagen ist, gilt entsprechend, wenn auch abgeschwächt, ebenso für die anderen Arten von Spielen.10 Kurz möchte ich hier noch die verschiedenen anderen Arten von Fantasy-Spielen vorstellen, da deren Verbreitung z.T. als sehr hoch anzusetzen ist:11


Fantasy-Brettspiele
sind von allen Fantasy-Spielen die “konventionellsten” Spiele. Wie man es auch von anderen Brettspielen gewöhnt ist, gibt es ein Spielbrett, Spielfiguren und Regeln, nach denen gewürfelt und gezogen wird. Allerdings ist das Spielgeschehen stark vom Fantasy-Hintergrund bestimmt, eine Hintergrundgeschichte erklärt die Welt, in der das Spiel situiert ist, die zu überwindenden Schwierigkeiten sind fantasy-typisch (Drachen, Monster, böse Zauberer..). Auch die Spielfiguren verkörpern Fantasy-Charaktere. Hier ein Beispiel für eine solche Spielfigur, einen “Alb” aus dem sehr verbreiteten12 Spiel “Hero Quest” (MB Spiele). Die Identifikation der SpielerInnen mit ihrer Figur ist bei diesen Spielen als relativ niedrig anzusetzen, da das Spielgeschehen konkret auf dem Spielbrett stattfindet. Fantasy-Brettspiele werden wohl vor allem von jüngeren SpielerInnen gespielt und sind möglicherweise auch ein “Einstieg” zu anderen Fantasy-Spielen.


Komplexere Strategiespiele
ähneln in gewisser Weise den Brettspielen, da auch hier Figuren auf einem Spielfeld bewegt werden, allerdings sind die Regeln wesentlich umfangreicher und der Hintergrund stärker ausgearbeitet.13 Meist treten zwei Opponenten mit Armeen, Kampfrobotern o.ä. gegeneinander an.
Als Beispiel eine Schlachtszene aus dem Strategiespiel “Warhammer”: “Imperiale Truppen bedrängen eine Zwergenarmee”.
Fantasy-Strategiespiele sind im Grunde genommen reine Kampf- und Kriegsspiele auf dem Hintergrund einer Fantasy-Welt. Daher sind diese Spiele schon von der Aufmachung her extrem gewaltorientiert.


Fantasy-Computerspiele
sind vermutlich die verbreitetsten Fantasy-Spiele überhaupt.14 Fantasy-Computerspiele sind wieder in verschiedene Genres wie etwa Jump And Run, Action, Adventures usw. zu unterteilen. Dabei sind sehr unterschiedliche Schwerpunkte und Problematiken vorhanden. Actionspiele sind beispielsweise stark gewaltorientiert, Adventures orientieren sich stark am Fantasy-Rollenspiel.15 Eine besonders aktuelle Form sind “Live-” Rollenspiele im Internet, etwa sogenannte Multi-User-Dungeons (MUDs), bei denen mehrere Spieler simultan am gleichen Spiel teilnehmen. Auf Fantasy-Computerspiele kann ich hier nicht weiter eingehen, diese Kategorie von Spielen wäre sicher eine eigene Untersuchung wert. Zur Illustration dieser Art von Spielen ein Bild aus dem Fantasy-Computeradventure “The Legend of Kyrandia”.


Fantasy-Kartenspiele (Trading Card Games oder Collectable Card Games)
Glaubt man einschlägigen Fachzeitschriften,16 erleben Trading Card Games derzeit einen ungeheuren Boom – seit jüngster Zeit auch im deutschsprachigen Raum.17 Bei einem Trading Card Game spielen zwei oder mehr Spieler gegeneinander. Die Karten stellen Länder, Burgen, Heldencharaktere, Armeen, Monster, Ereignisse, Zaubersprüche, Waffen usw. dar. Ziel des Spiels ist es, durch möglichst geschickte Kombination von Karten die gegnerischen Kartenwerte zu übertreffen. Der Gewinner erhält meist die “besiegten” Karten des Gegners. Da die Karten in kleinen Päckchen, sogenannten Starter Packs (Grundset) und Boosters (Erweiterungssets) verkauft werden, in denen die Karten “wundertütenartig” gemischt sind, ist der Kaufanreiz sehr hoch – das Gewinnen hängt nämlich nicht unwesentlich vom Besitz seltener Karten ab. Im Trading Card-Bereich werden nationale und internationale Turniere ausgetragen. Die abgebildete Karte “Inquisition” stammt aus dem Kartenspiel “Dark Force”, einer Umsetzung des Rollenspiels “Das Schwarze Auge” in ein Trading Card Game.


Live-Rollenspiele
sind eine im deutschen Sprachraum noch relativ wenig verbreitete spezielle Form des Rollenspiels. Bei dieser Art von Spiel schlüpfen die SpielerInnen auch körperlich in die von ihnen dargestellten Charaktere. Dazu gehört eine entsprechende – karnevalsartig anmutende – Verkleidung, sog. “Polsterwaffen”, eine entsprechende Umgebung (etwa Waldlandschaft, Burg o.ä.). Sonst funktionieren sie ähnlich wie konventionelles Rollenspiel. Live-Rollenspiele sind, etwa wegen Unfällen, die nicht zuletzt aus der Identifikation mit der Rolle resultierten, in letzter Zeit öfter Gegenstand von Pressemeldungen gewesen.18 Das Bild zeigt eine – als “Orks” o.ä. kostümierte Gruppe von englischen Live-RollenspielerInnen bei einem Treffen 1995.19


2.2. Fantasy-Rollenspiel

2.2.1. Wie funktioniert Fantasy-Rollenspiel?

Ein Fantasy-Rollenspiel hat gewisse Ähnlichkeiten mit einem Fantasy-Roman. Eine Geschichte, die in einer – zumeist bereits mehr oder weniger vorgegebenen20 – Fantasy-Welt spielt, wird von Spielleiter und Spielern erzählt. Allerdings steht die Geschichte nicht von vornherein völlig fest. Die Spieler verkörpern jeweils eine Figur aus der Spielwelt. Deren Eigenschaften und Fertigkeiten werden zu Beginn festgelegt, meist in einer Kombination aus Würfelergebnissen und Spielerentscheidung, und auf einem “Charakterbogen” in numerischer Form festgehalten. Der Spielleiter (Meister, Master etc.) kennt den groben Ablauf der Geschichte, die darin vorkommenden Personen und Orte usw. Diese Kenntnis bezieht er entweder aus einem gekauften “Abenteuerbuch” oder er bereitet die Geschichte selbst vor. Das Spiel selbst entwickelt sich dann so:

“Der SpL (Spielleiter, Anm. d.Vf.) beschreibt den Spielern eine Szene in der Spielwelt, wie sie sich den SpF (Spielerfiguren, Anm. d. Vf.) darbietet. Die Spieler legen dem Spielleiter dar, wie sie sich in der beschriebenen Situation verhalten. Der Spielleiter wiederum bestimmt unter Heranziehen der Regeln das Ergebnis der Handlung und teilt es den Spielern mit, die nun darauf reagieren können. All dies findet vornehmlich in Dialogform statt, kann aber auch durch visuelle Hilfen (Landkarten, Bilder usw.) unterstützt werden.21

Über Erfolg bzw. Mißerfolg der Handlungen der Spielfiguren entscheiden neben dem Spielleiter sog. Würfelproben, bei denen das Würfelergebnis in Relation zu den festgelegten Eigenschaftswerten der Spielfiguren bewertet wird. Am Spiel nehmen im allgemeinen ca. 3-8 Personen teil, die meist – der häufigen Notizen wegen – um einen Tisch sitzen, wobei der Spielleiter seine Unterlagen vor den Spielern verbirgt. Die Spielfiguren werden von den Spielern im allgemeinen nicht nur für ein Spiel, sondern über eine längere Zeit geführt. Nicht selten spielen Rollenspieler jahrelang die gleiche Figur. Im Laufe vieler bestandener Abenteuer verändern sich die Spielfiguren, sie gewinnen an “Erfahrung” und “Können” hinzu, machen also gewissermaßen eine “Persönlichkeitsentwicklung” durch.


2.2.2. Verschiedene Gattungen von Fantasy-Rollenspielen

Im Internet ist eine aktuelle komplette Liste aller bisher publizierten Rollenspiele verfügbar.22 Der Autor23 verwendet 25 verschiedene Genre-Bezeichnungen und gibt außerdem zu bedenken: “Many games represented as belonging to a certain genre would properly belong in multiple genres”.24 Eine etwas andere Einteilung in ebenfalls über 20 Genres bietet L. Schick.25 Für die hier vorliegende Untersuchung scheint mir eine gröbere und anders akzentuierte Kategorisierung zweckdienlicher zu sein. Ich unterscheide daher im folgenden zwischen den Rollenspielgattungen “Klassische Fantasy”, “Dark Fantasy” und als exotischste Gruppe “Pseudo-christliche Fantasy”. Diese Gattungen erfassen keineswegs alle auf dem Markt befindlichen Rollenspiele, aber vor allem im Hinblick auf die theologischen Fragestellungen sind sie m.E. die wichtigsten und griffigsten. Hier eine kurze Begriffsklärung:

Klassische Fantasy nenne ich Rollenspiele, die in einer echten, nicht technisierten Fantasy-Welt spielen. Magische Komponenten spielen eine wichtige Rolle. Beispiele für klassische Fantasy sind etwa die Spiele “Das Schwarze Auge”, “Mittelerde Rollenspiel”, “Advanced Dungeons & Dragons”.

Unter Dark Fantasy fasse ich Rollenspiele zusammen, die entweder in einer technisierten, düsteren Welt spielen – meist ist die Zukunft oder gar die Gegenwart der Erde selbst die Spielwelt (“Shadowrun”, “Cyberpunk 2020”, “KULT”, “Nephilim” etc.) oder in denen die Spieler selbst “finstere” Figuren spielen, wie etwa in Horror-Rollenspielen (“Wraith – the Oblivion”, “Vampire” etc.)

Pseudo-christliche Fantasy nenne ich die (seltenen) Rollenspiele, die explizit mit einem pseudo-christlichen Hintergrund arbeiten. Hierzu gehören etwa “Angeli” oder die zusammengehörenden Spiele “Magna Veritas” und “In Nomine Satanis”

Manche dieser Rollenspiele sind streng genommen keine Fantasy-Rollenspiele mehr, sondern Horror-Rollenspiele, Science-Fiction-Rollenspiele usw. Eigentümlicherweise kommen aber kaum Rollenspiele ohne fantasy-typische Elemente wie etwa Magie aus. Das ermöglicht m.E. die Zuordnung auch dieser Rollenspiele zum dann sehr umfassend verstandenen Begriff “Fantasy”.


Anmerkungen:

4 Artikel “Fantasy”, Bertelsmann Lexikon, Bd. 4, Gütersloh, 1987C
5 ebd.
6 Artikel “Tolkien”, Bertelsmann Lexikon, Bd. 14, Gütersloh, 1987B
7 so etwa Heyne, Goldmann, Bastei-Lübbe u.a.
8 Bastei-Lübbe: “Science Fiction. Fantasy. Verzeichnis der lieferbaren Serien und Zyklen 1995/96”
9 In diesem Sinne gehören etwa Brettspiele, bei denen die “Fantasy” lediglich marginal - etwa in der Spielbrettgestaltung, nicht aber im Spiel selbst eine Rolle spielt, wie etwa bei dem bekannten Brettspiel “Sagaland”(abstrakte Regeln und Spielfiguren), nicht zu den Fantasy-Spielen. Spiele wie das Brettspiel “Hero Quest”gehören hingegen dazu, da Fantasy-Elemente im Spiel selbst eine wichtige Rolle spielen (“Story”, Magie, Fantasy-Spielfiguren etc.)
10 Jede Form von Spiel hat natürlich auch ihre eigenen Problematiken. So ist etwa bei den “Trading Card Games” der finanzielle Aspekt ein entscheidender, weil Spieler große Summen investieren müssen, um zu seltenen, spielwichtigen Karten zu gelangen, die in Turnieren unverzichtbar sind. Bei den Fantasy-Computerspielen spielen dagegen etwa die Probleme eine gewichtige Rolle, die sich aus der Vereinzelung des Computerspielers usw. ergeben.
11 siehe auch den Überblick “Fantasy Rollen- und andere Spiele” im Anhang
12 die Umfrage unter Schülern in Salzburg ergab für dieses Spiel den höchsten Bekanntheitsgrad aller Fantasy-Spiele überhaupt
13 von manchen Strategiespielen gibt es auch eine Rollenspielversion
14 26 von 185 von mir befragten Schülern spielen Fantasy-Computerspiele
15 manche Fantasy-Computerspiele sind direkte Umsetzungen von Fantasy-Rollenspielen, so etwa “Das Schwarze Auge”
16 Kartefakt, Nautilus, Wunderwelten u.a.
17 Trading Card Games gibt es auch mit anderen Hintergründen, etwa Science Fiction oder “James Bond”.
18 so berichtete das deutsche Fernsehmagazin “auslandsjournal” am 8.11.1994 von einem Live-Rollenspiel mit tödlichem Ausgang in Frankreich [Anm. d. Red.: Stimmt nicht ganz. Es ging um einen Live-Rollenspieler, der außerhalb des Spiels Selbstmord begangen hatte.]
19 aus der Internet-Homepage der “International Fantasy-Gaming Society”, Adresse: http://www.ifgs.com [Anm. d. Red.: Es sind Goblins.]
20 Zu manchen Fantasy-Rollenspielsystemen existieren tausende von Seiten “Hintergrundliteratur”, Beschreibungen und Landkarten von Ländern und Städten, Sitten und Gebräuche der Völker der Spielwelt, Einführungen in Religionen und Mythologien etc.
21 Nagel, Dr. Rainer, “Fachsprache der Fantasy-Rollenspiele: Wortbildungselemente und -prozesse im Englischen”, Peter Lang Verlag, Frankfurt 1993
22 unter der Internet-Adresse http://www.omnigroup.com/People/surge/rpgs.html
23 Die Liste ist lediglich mit dem Vornamen “Jon” gezeichnet
24 im Abschnitt “Game Category Definitions” unter der Internet-Adresse http://www.omnigroup.com/People/surge/rpgs.html
25 Schick, Lawrence, “Heroic Worlds: A History and Guide to Role-Playing Games”, Prometheus Books, Buffalo, N.Y., 1991.



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