Dr. Jeannette Schmid: Fantasy-Rollenspiel: Gefahren und Chancen

Dr. Jeannette Schmid, Psychologisches Institut, Universität Heidelberg

Fantasy-Rollenspiel:
Gefahren und Chancen

Vortrag auf Einladung des Realschullehrerverbandes und der Volkshochschule Schwäbisch-Hall am 4.5.1995


Bitte machen Sie mir die Freude und lassen sich einen Augenblick auf ein Gedankenspiel ein, in dem es um den Umgang mit einem jugendlichen Rollenspieler geht – als Beispiel wähle ich einen männlichen Heranwachsenden von 17 Jahren als typischen Repräsentanten dieser Gruppe.

(An dieser Stelle folgt die Darstellung eines von zwei Szenarien, wobei im Dialog mit dem Auditorium verschiedene Handlungsmöglichkeiten angesprochen werden; im folgenden wird die jeweilige Grundstruktur aufgeführt:)


Szenario I: Sie stellen fest, daß Ihr Sohn fast alle Wochenenden bei Freunden verbringt und häufig in Spiele-Läden geht. Was tun Sie?

1. Nachfragen -> unverständliche Auskunft

-> Folge-Entscheidungen
1.1. Verbieten
1.2. Verspotten
1.3. Vorführen lassen (Raum anbieten)
2. Zimmer durchsuchen -> merkwürdige Bücher
-> Folge-Entscheidungen
2.1. Lesen
2.2. Sohn damit konfrontieren
2.3. Wegwerfen
3. Weiter Beobachten -> Abnahme sonstiger Interessen
-> Folge-Entscheidungen
3.1. Nachfragen bei Spiele-Läden
3.2. Andere Eltern kontaktieren
3.3. Bei Lehrern nachfragen
Weitere Informationen (zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt):
- auf Demütigungen reagiert der Sohn mit Verstocktheit
- auf Einmischung reagiert er ausweichend
- Gespräche mit anderen Eltern und Lehrern können Besorgnisse wecken


Szenario II: Sie als LehrerIn stellen fest, daß ein mittelmäßiger Schüler im Unterricht eifrig Notizen macht, obwohl es gar nichts mitzuschreiben gibt. Wie reagieren Sie?

1. Aufrufen -> Schüler ist dem Unterricht nicht gefolgt

-> Folge-Entscheidungen
1.1. Tadeln und es dabei belassen
1.2. Auffordern, das zuletzt Gesagte zu wiederholen
1.3. Zum Vorlesen der Notizen auffordern
2. Hingehen -> Schüler schreibt Listen von “Magie-Sprüchen”
-> Folge-Entscheidungen
2.1. Kommentarlos daneben stehen
2.2 Notizen bis nach der Stunde einbehalten
2.3. Wegnehmen und direkt nachfragen
3. Aufschieben
-> Folge-Entscheidungen
3.1. Nach der Stunde darauf ansprechen
3.2. Eltern kontaktieren
3.3. Ignorieren
Weitere Informationen (zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt):
- auf Demütigungen reagiert der Schüler mit Verstocktheit
- die Eltern geraten in Panik
- es gibt die Möglichkeit, Rollenspiel-Inhalte für den Unterricht zu nutzen


Hier spätestens beginnt die Sache, kompliziert zu werden. Ich habe dieses kleine Szenario an den Anfang gestellt, weil ich an diesem Beispiel wesentliche Elemente des Rollenspiels erläutern kann – Sie haben sicher gemerkt, daß Sie soeben selbst an einem Rollenspiel teilgenommen haben. Sie waren die Spieler und ich die Spielleiterin. Ich habe in diesem Spiel zunächst eine Situation geschildert und die Geschichte jeweils bis zu einem Punkt erzählt, an dem eine Entscheidung Ihrerseits zu treffen war. Dann haben Sie die Konsequenzen Ihrer Entscheidung erfahren, das heißt Sie haben selbst die Geschichte, die ich erzählte, beeinflußt.

In jedem Rollenspiel hat der Spielleiter diese Aufgabe und den damit einhergehenden Informationsvorsprung – nur ich habe sicher gewußt, daß der Junge beispielsweise auf Demütigungen jeglicher Art ausgesprochen verstockt reagieren würde. Diese Aufgabe des Spielleiters erfordert viel Flexibilität, denn ich kann ja nicht alle Ihre Entscheidungen voraussehen und muß trotzdem sinnvoll darauf reagieren, ohne die Geschichte unglaubwürdig werden zu lassen.

Natürlich gibt es zwischen dem, was wir hier probiert haben, und dem üblichen Fantasy-Rollenspiel auch Unterschiede – nicht, weil wir es weder mit Elfen noch mit Hexerei zu tun hatten, denn wie ich noch näher ausführen werde, sind längst nicht alle Rollenspiele der Tolkien-Version des Mittelalters verhaftet, sondern

a) weil Sie nicht eine von Ihnen selbst erdachte Figur darstellten, sondern (wie ich annehme) sich für die Handlungsweise entschieden haben, der Sie selbst in solch einer Situation den Vorzug geben würden

und

b) weil die Folgen Ihrer Entscheidungen von mir allein festgelegt wurden, ohne daß der Zufall eine Rolle gespielt hätte.

Und diese zwei Besonderheiten von Rollenspielen, die Entwicklung der dargestellten Figuren und die Art und Weise, wie der Zufall und die Wahrscheinlichkeit die Konsequenzen der einzelnen Aktionen beeinflussen, sind der Grund, weshalb es umfangreiche Regelwerke gibt.1

In jedem Regelwerk findet man Informationen über die Spielwelt und die Bedürfnisse und Gefahren, die zu dieser Spielwelt gehören sowie über die Grundregeln der Figuren-Erschaffung und ihre Möglichkeiten, sich mit der Spiel-Umwelt auseinander zu setzen.





Bevor ich mich jetzt an eine Typologie von Fantasy-Rollenspielen wage, möchte ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, noch ein paar Sätze zum Begriff “Rollenspiel” anbringen.

Es gibt Rollenspiele mit therapeutischer Zielsetzung, wie im sogenannten Psychodrama und natürlich auch solche mit pädagogischer Stoßrichtung, z.B. beim Training von Führungskräften. Beim Psychodrama stellt eine Person Situationen nach, die sie erlebt hat und deren Auswirkungen sie bewältigen möchte, beim Führungskräftetraining geht es entweder um direktes Ausprobieren neu gelernter Techniken oder um Training des Einfühlungsvermögens. Fantasy-Rollenspiele hingegen haben keinen anderen Zweck als den der Unterhaltung, es sind Gesellschaftsspiele mit besonderen Eigenschaften.

Wenn Sie zu einem der größeren Rollenspieler-Treffen gehen würden, würden Sie neben ein paar wenigen jungen Leuten in mittelalterlicher oder anderweitig abenteuerlicher Gewandung eine Vielzahl von unauffälliger angezogenen jungen Leuten an Tischen sehen, auf denen Bücher, Würfel, Zinnfiguren und ähnliches aufgebaut sind. Die Spieler sitzen um die Tische herum, würfeln hin und wieder mit bis zu 100seitigen Würfeln, sagen etwas und blättern in den Büchern, bzw. machen sich Notizen. Von außen gesehen passiert kaum etwas. Es kann sein, daß der Spielleiter, der hinter einem kleinen Wandschirm sitzt, damit man ihm buchstäblich nicht in die (Land-)Karten schauen kann, einmal aufsteht, einen der Spieler fixiert und mit mehr oder weniger verstellter Stimme etwas zu ihm sagt, es kann auch sein, daß die Runde unvermittelt in Gelächter ausbricht – als Außenstehender kann man damit nicht viel anfangen und es wirkt eigentlich in erster Linie langweilig. Trotzdem läuft so ein typisches Fantasy-Rollenspiel ab.

Etwas mehr vom Theater hat Live Action Rollenspiel, bei dem die Spieler in Gewandung in Wäldern und häufig auch in und vor historischer Kulisse ihre gewählten Rollen ausagieren – dies ist das aufwendige Hobby einer kleinen Minderheit, die ansonsten jedoch im allgemeinen auch am normalen Rollenspiel (dem am Tisch) Interesse hat. Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Minderheit in Fernsehberichten überrepräsentiert ist, sie ist optisch einfach wesentlich attraktiver. Doch auch bei den Live-Rollenspielern gibt es ein ausgefeiltes Regelsystem, das die Voraussetzung für das Zusammenspiel bildet.

Nicht zu vergessen sind Play-By-Mail Rollenspiele, bei denen man im Postkontakt über die Vermittlung eines Spielleiters, bei dem alle Informationen zusammenlaufen, den anderen Spielern seine diplomatischen oder kriegerischen Aktionen mitteilt und erfährt, ob die eigene Strategie von Erfolg (z.B. fiktivem Landgewinn) gekrönt war.2





Ich werde oft gefragt, wie man beim Rollenspiel “gewinnt”, bzw. was das individuelle Spielziel ist. Da gibt es eine Hierarchie von Zielen. Zunächst enthält die Geschichte, die der Spielleiter die Spieler erleben und mitgestalten läßt, im allgemeinen ein Rätsel bzw. Problem und wichtigstes Spielziel ist die Lösung – sei es, daß ein verschwundener Gegenstand gefunden, ein Spion entlarvt oder ein Krieg verhindert werden soll – es gibt sehr viele Möglichkeiten. Ein individuelles Ziel kann z.B. darüber hinaus sein, daß die Spielfigur Reichtümer, Erfahrungen oder Ruhm sammelt. Wesentlich ist, daß die guten Leistungen eines Spielers seinen Mitspielern im allgemeinen ebenfalls zugute kommen. Wenn das Abenteuer glücklich bestanden ist, erhalten die Spielfiguren Belohnungen, oft in Form von Punkten, die es ihnen ermöglichen, eine Fähigkeit oder Fertigkeit weiter zu vervollkommnen. Im nächsten Abenteuer werden sie geschickter sein – allerdings werden sie dann auch mit größeren Gefahren fertigwerden müssen.

Es gibt Spieltypen, die oft in einem Atemzug mit Fantasy-Rollenspielen genannt werden, aber keine sind: Brettspiele oder Kartenspiele, bei denen zwar das Element von Glück und Strategie noch erhalten ist, ebenso wie der phantastische Hintergrund, aber das eigentliche Rollenspiel nicht mehr vorkommt, genauso wenig wie die Phantasie. Das gleiche gilt auch für nicht-interaktive Computer-Rollenspiele, auch wenn sie zuweilen Rätsel enthalten, die zu knacken sind.

Außer nach dem äußeren Ablauf und den jeweiligen Einzelregeln für Figurenbau und Handlungsabläufe kann man auch eine Einteilung nach besonderen Eigenheiten der Spielwelt versuchen: Kerker und Drachen sind beileibe nicht die einzigen typischen Elemente – neben Tolkiens Mittelerde gibt es auch den Wilden Westen, Boston zur Zeit der Prohibition, die Gegenwart, die Zukunft einschließlich Raumschiff Enterprise und vieles von dem, was auch in Science Fiction, Fantasy-, Kriminal- und Horror-Romanen nachzulesen ist. Es gibt mittlerweile einige Hundert Spielsysteme.





Da sei die Frage erlaubt, wie und wann es losging.

Unter anderem angeregt von dem aufflammenden Interesse an Fantasy-Literatur im Zusammenhang mit J.R.R. Tolkiens Lord of the Rings wurde 1974 von der Firma Tactical Studies Rules (TSR) das erste Fantasy-Rollenspiel namens Dungeons & Dragons veröffentlicht.3

Das revolutionäre Konzept, die Spieler fiktive Charaktere vor einem ausgearbeiteten historischen oder phantastischen Hintergrund spielen zu lassen, fand schnell Anhänger. Heute bringt allein die Firma TSR jährlich 100 neue Produkte auf den Markt, darunter Videospiele und eine Reihe von Romanen, die regelmäßig auf den Bestseller-Listen landen. Es bestehen Schätzungen, daß jährlich ca. eine halbe Million Rollenspieler dazukommen.4 Das erste deutsche Rollenspiel, “Midgard”, erschien 1981.

Es gibt weltweite sowie nationale Rollenspiel-Clubs und regelmäßige Kongresse – der größte, genannt Gen Con, hatte 1994 200 Aussteller und 25.000 Besucher. Diese Zahlen machen hoffentlich deutlich, daß wir es hier nicht etwa mit einem sozialen Randphänomen zu tun haben.

Eine Frage, die von Befürwortern und Gegnern gleichermaßen gestellt wird, ist die nach den Kennzeichen von Rollenspielern.

Einigkeit besteht darüber, daß es sich vorwiegend um männliche Jugendliche handelt. Aufgrund der nun schon zwanzigjährigen Tradition von Fantasy-Rollenspielen ist die Altersvarianz allerdings hoch. Nach wie vor ist der Anteil von Mädchen und Frauen gering. Die Ursachen könnten in mangelnden Interesse an dem kämpferischen Aspekt liegen, oder auch in einer geringeren Bereitschaft, sich in die detaillierten und damit oft langweiligen Regelbücher zu vertiefen. Andererseits werden Mitspielerinnen von vielen Spielerrunden als Bereicherung empfunden und können durch ihr teilweise etwas geübteres Einfühlungsvermögen viel zur Spielqualität beitragen. Trotz der im Spielmaterial noch teilweise vorkommenden sexistischen Darstellungen (die Kämpferin im Chain-Mail-Bikini ist schon sprichwörtlich) erscheint der Umgang der RollenspielerInnen miteinander weitgehend frei von geschlechtsbezogenen Vorurteilen.





Mit der zunehmenden Beliebtheit dieser Freizeitbeschäftigung nahmen Medienberichte über Fantasy-Rollenspiele zu, es kam in den USA zu einer organisierten Gegenbewegung, die ihr Sprachrohr in B.A.D.D. (Bothered About Dungeons & Dragons) fand.

Es sind im wesentlichen 4 negative Konsequenzen, die Rollenspielen nachgesagt werden:

1) Verleitung zum Okkultismus;
2) Beeinträchtigung der Psyche und Suizidgefährdung;
3) Verleitung zu Kriminalität und Gewalttätigkeit;
4) Vernachlässigung der Schule und Ausbildung.

Ich möchte im folgenden auf jeden dieser Punkte eingehen:

Ein Blick in die Regelbücher zeigt, daß dem Element der Magie ein breiter Raum zugestanden wird. Neben Rollenspielen, die eine möglichst geschichtstreue Version des Mittelalters zugrunde legen, gibt es eine Vielzahl von Spielwelten, die auf dem Element des Phantastischen, Wunderbaren, aber auch Bedrohlichen basieren. Sie berühren damit die Welt der Märchen mit den bekannten Figuren wie Feen und Zwerge, Drachen und Hexen. Da die Spieler überwiegend die Rolle der guten Helden spielen, die sich tapfer dem Bösen entgegenstellen, wird gerade dieses Böse detailliert entwickelt und tritt häufig in der Form von Teufeln und Dämonen auf den Plan. Dies ist beinahe zwangsläufig der Fall, da die Erfinder der Geschichten (die Spiele-Hersteller) sich natürlich ihrer eigenen Phantasie bedienen müssen, die von ihrem kulturellen Hintergrund geprägt ist, und dies ist meist der abendländisch-christliche. Daß Jugendliche sich auf diese Weise mit Themen befassen, die vom kirchlich-dogmatischen Gesichtspunkt her der Schwarzen Magie zuzurechnen sind, hat etliche bibelfeste Amerikaner empört, die den Standpunkt vertreten, daß christliche Themen und Symbole durch derartige Spielwelten profaniert würden. Um dem Rechnung zu tragen, verzichtete beispielsweise die Firma TSR in der Zweitauflage von “Advanced Dungeons & Dragons” auf überlieferte Dämonen-Bezeichnungen und erfand Kunstwörter. Neben der quasi fundamentalistischen Gegenposition zu Fantasy-Rollenspielen wird jedoch auch, insbesondere in Zeitungsmeldungen und Fernsehshows, eine Verbindung zwischen Fantasy-Rollenspielen und real praktiziertem Okkultismus bzw. Satanismus gezogen. In extremster Weise wird dies von Pat Pulling in ihrem Buch “Das Teufelsnetz” vertreten5, in welchem sie den Nachweis zu bringen versucht, daß Fantasy-Rollenspiele nichts als Rekrutierungsmittel von teuflischen Sekten seien. Dies versuchte sie durch eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsberichten nachzuweisen. In jüngerer Zeit hat sich allerdings herausgestellt, daß sie aus dem Zusammenhang zitierte und Tatsachen offenbar bewußt einseitig dargestellt hat.6 Während ihrem Buch in den USA daher zunehmend weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, hat sich dieser Umstand in Deutschland offenbar noch nicht herumgesprochen, denn immer noch wird ihre Veröffentlichung als Beleg herangezogen.7 An dieser Stelle muß in aller Deutlichkeit festgehalten werden, daß es für einen Zusammenhang zwischen Rollenspiel-Teilnahme und einer wie immer gearteten Gefährdung durch Okkultismus keinen wissenschaftlichen Beleg gibt.

Wesentlich schwerwiegender – und gerade im Zusammenhang mit einem im letzten Jahr in Frankreich aufgetretenen Fall8 wichtiger – ist der Vorwurf der Selbstmordgefährdung. Dahinter steht die Annahme, daß mit zunehmendem Rollenspiel die Spielwelt für den Spieler wichtiger wird als die reale Welt und der Rollenspieler irgendwann einen Punkt erreicht, an dem ihm die Unterscheidung schwer fällt. Daraus werden dann zwei Konsequenzen hergeleitet: Zum einen könnte ihn der Tod seiner Spielfigur so treffen, daß er selbst keinen Sinn im Leben mehr erkennt, zum anderen könnte der Spielleiter so viel Macht gewinnen, daß seinen Befehlen bedingungslos gehorcht wird, auch wenn sie die Person des Spielers akut gefährden. Letztere Begründung wird auch für den postulierten Zusammenhang zwischen Rollenspiel und Gewaltkriminalität herangezogen.

Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, etwas detaillierter auf die Funktion und Macht des Spielleiters einzugehen.9 Ein Spielleiter hat mehr Informationen als die Spieler, er weiß, welche Entscheidungen welche Gefahren nach sich ziehen und welche erfolgversprechend sind. Dieses Wissen kann sich auf fiktive Räumlichkeiten beziehen, in der Form von Landkarten und Gebäudeplänen, die nur der Spielleiter kennt, aber auch auf die fiktiven Personen, denen die Spielfiguren begegnen, seien es jetzt Monster oder andere Persönlichkeiten mit geheimnisvollen Plänen und Motiven. Der Spielleiter hat bei Disputen über Regeln die endgültige Entscheidung. Ein solcher Disput könnte z.B. zum Inhalt haben, ob eine selbstleuchtende hell-strahlende Münze durch mehrere Lagen Leintücher vollständig abgedunkelt werden kann (eher nein) oder ob man in Byzanz mit der sofortigen Hinrichtung zu rechnen hatte, wenn man beim Empfangszeremoniell unaufgefordert das Wort an den Kaiser richtete (man hatte!). Wie eingangs schon erwähnt, wohnt den meisten Rollenspielen jedoch auch ein Element des Zufalls inne, der durch Würfeln simuliert wird. In dem Augenblick, in dem der Spielleiter insgeheim (hinter seinem Sichtschutz) würfelt, kann er theoretisch mogeln, d.h. der Willkür nachgeben. Da nur er die Hintergründe kennt, kann er darüber hinaus ad hoc Dinge dazu erfinden, die die Situation für die Spieler erschweren (so kann er z.B. behaupten, daß ein Gegner mit einem bestimmten Zauber belegt ist, der ihn ausgerechnet vor dem Angriff schützt, den die Spieler gerade erfolgreich initiiert zu haben glaubten). Doch hier ist gleichzeitig die Grenze der Willkür – es muß solch einen Zauber geben und der Spielleiter muß eine gute Begründung geben, weshalb er in Kraft war, sonst werden auf die Dauer die Spieler demotiviert und suchen sich einen faireren Spielleiter. Natürlich gibt es große Differenzen darüber, was fair ist und so bewegen sich Spielleiter auf dem schmalen Grat, die Spieler nicht allzu sehr zu frustrieren (auch wenn sie ihre Spielcharaktere in Schwierigkeiten gebracht haben) und andererseits nicht allzu schnell mit Spielerfolgen zu belohnen, sonst wird es zu einfach und schließlich langweilig.10 Die festgefügte eingeschworene Spielrunde ist überdies nicht der Regelfall, mehr als die Hälfte der Spieler spielt hin und wieder bei anderen Spielleitern, dies fördert die Qualität und beugt Abhängigkeiten vor. Eine andere Variante sind Spielrunden, bei denen die Funktion des Leiters mit jedem Abenteuer an einen anderen Spieler weitergegeben wird. Dies ist übrigens zunächst keine Auszeichnung sondern eher dem Umstand zu verdanken, daß Spielleitung recht arbeitsaufwendig ist, denn das Abenteuer samt Hintergrundgeschichte ist zu verändern oder gänzlich neu zu erfinden. Trotz der aufgezählten Umstände, die einer Machtentfaltung durch den Spielleiter entgegenwirken, halten sich jedoch in der Presse hartnäckig Behauptungen von der Dominanz der Spielleiter und sogar von faschistoiden Strukturen, in der die Rollenspieler zu Automaten oder willenlosen Opfern werden.11

Wenn ein Jugendlicher Selbstmord begeht, ist dies ein entsetzlicher Schlag für alle, die ihn kannten, allen voran die Eltern, Geschwister und engsten Freunde. Es ist sehr schwer, sich nachträglich der Tatsache zu stellen, daß womöglich eine schwere Krankheit vorhanden war, deren Anzeichen man falsch deutete. Also suchen vor allem die Eltern nach einer Erklärung, die ihr eigenes Selbstwertgefühl schützt und auch die Integrität ihres Kindes nicht antastet. Wenn sie dann (vielleicht erst dann) feststellen, daß ihr Kind Rollenspieler war, beginnt ein Teufelskreis von Vermutungen und Verdächtigungen. Es liegt in der Natur des menschlichen Denkens, daß wir bei dem Zusammentreffen seltener Ereignisse schnell und unzulässigerweise zu dem Schluß kommen, es bestünde ein kausaler Zusammenhang. So wie wir uns bei Minderheiten ausgerechnet das (seltenere) negative Verhalten besonders gut merken (der Fachterminus dafür ist “Illusionäre Korrelation”) so geschieht es auch in diesem Fall. Erkennbar wird es, wenn Eltern- oder kirchliche Organisationen anfangen, das Zusammentreffen solcher Ereignisse zu beobachten und zu sammeln.12 So werden von der amerikanischen Elternorganisation B.A.D.D. systematisch Zeitungsberichte und Polizeiberichte gesammelt, in denen bei Jugendlichen, die in Gewaltdelikte verwickelt waren oder einen Selbstmord oder Selbstmordversuch unternommen haben, vermerkt ist, daß sie Rollenspieler waren. Weshalb dieses Vorgehen nicht als Beleg für den Zusammenhang zwischen Suizidgefährdung und Rollenspiel herangezogen werden kann, wird klar, wenn man ein abwegiges Beispiel daneben setzt. Angenommen, es gäbe die Vermutung, ehemalige Ministranten seien selbstmordgefährdet – auch hier ließe sich eine Reihe von Fällen finden, in denen diese zwei seltenen Ereignisse zusammentreffen.

Wie geht man hingegen wissenschaftlich vor? Zunächst müßte man die Zahl von Rollenspielern, die einen Selbstmord oder Selbstmordversuch unternommen haben, zu der Zahl derjenigen in Beziehung setzen, die dieses nicht taten. Stünden uns hier exakte Zahlen zur Verfügung, könnte man auf diese Weise die Suizidrate bei Rollenspielern ermitteln. Diese Angabe reicht jedoch noch nicht aus, denn als nächsten Schritt müßte man die Suizidrate bei Nicht-Rollenspielern damit vergleichen. Erst wenn diese deutlich niedriger wäre, könnte man überhaupt daran denken, nach einem Zusammenhang zu suchen. Ich habe schon angedeutet, daß es an exakten Zahlen mangelt. In den epidemiologischen Statistiken ist zwar etwas über die Alterszusammensetzung von Selbstmordopfern zu erfahren und über das Vorhandensein psychischer Erkrankungen (falls bekannt), nicht aber über Freizeitbeschäftigungen. Die Quellen, die man heranziehen kann, sind die Fallsammlungen der erklärten Rollenspiel-Gegner und die Berichte von Jugendlichen über die Gründe für ihre Selbstmordversuche. Legt man die oben erwähnten Fallzahlen zugrunde, läge das Selbstmordrisiko bei Rollenspielern um ein Vielfaches niedriger als bei Nicht-Rollenspielern. Bei den Gründen, die Jugendliche nennen, firmieren ganz oben Probleme mit Freunden und mit der Schule sowie Drogen. Rollenspiel wird nicht als wesentlicher Faktor genannt. In umfangreichen Studien konnte weder das Center for Disease Control13 noch die American Association of Suicidology14 einen Zusammenhang finden. Studien über Selbstmorde bei Personen unter 30 Jahren stellen bei mehr als der Hälfte Drogenmißbrauch (incl. Alkohol) und – oft damit kombiniert – bei ca. 40% eine depressive Erkrankung fest.15 Die Warnzeichen neben vorausgegangenen Selbstmordversuchen und -androhungen sind Isolierung und Vereinsamung. Gerade zu letzterem steht die Grundstruktur des Rollenspiels, die Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit voraussetzt, im Gegensatz.

Was sind es nun eigentlich für Personen, die regelmäßig diese Spiele spielen? Sind sie womöglich labiler als andere? Es gibt bisher nur sehr wenige Versuche, Rollenspieler mit psychologischen Verfahren zu untersuchen. 1987 wurde in den USA eine Studie mit 68 Rollenspielern durchgeführt16, bei der es darum gehen sollte, die Auswirkungen von Rollenspielerfahrung (in Jahren) auf die emotionale Stabilität zu überprüfen. Zu diesem Zwecke füllten die Rollenspieler einen Persönlichkeitsfragebogen (den “16-Personality-Factors” von Cattell) aus. Insgesamt zeigte sich ein durchschnittliches Persönlichkeitsprofil, das von dem der Normalbevölkerung in keinem Punkte bedeutsam abwich, auch nicht in dem der Stabilität. Der einzige Unterschied zwischen erfahrenen und neuen Rollenspielern ergab sich in einem Faktor, der Unabhängigkeit des Denkens und Experimentierfreude zu messen vorgibt – hier schnitten die langjährigen Rollenspieler besser ab. Allerdings wurde dabei nicht beachtet, daß diese meist auch älter sind.

Da das verwendete Instrument mittlerweile wegen einiger Schwächen kritisiert wird und die Studie ja schon eine Weile her ist, habe ich in den letzten Wochen eine Befragung mit einem anderen Instrument (dem NEO-Fünf-Faktoren-Inventar17) durchgeführt*. Teilnehmer waren 77 Rollenspieler aus dem Süddeutschen Raum. Sie waren im Schnitt 21 Jahre alt und spielten seit ca. 7 Jahren Rollenspiele. Auch hier hob sich das durchschnittliche Persönlichkeitsprofil kaum von dem der Normalbevölkerung ab, die Unterschiede waren klein. Rollenspieler zeigten sich weniger neurotizistisch, d.h. emotional stabiler, etwas extravertierter, ein Stück offener für neue Erfahrungen, etwas sozial verträglicher und hilfsbereiter und etwas weniger gewissenhaft und ordentlich. Der einzige Faktor, mit dem die Dauer des Rollenspiels einen Zusammenhang zeigte, war die Offenheit für neue Erfahrungen – hier zeigten sich langjährige Rollenspieler offener und durch entsprechende statistische Analysen konnte gezeigt werden, daß es tatsächlich eher die Rollenspiel-Erfahrung als das Lebensalter war, die dies vermittelte. Auch hier gab es also keine besorgniserregenden Befunde.

Ähnlich wie das Problem der Selbstmordgefährdung und meist im selben Atemzug wird die Gefahr von Gewalttaten im Zusammenhang mit Rollenspiel in der Presse diskutiert.

Die Befürchtungen werden aus verschiedenen Argumenten abgeleitet: (1) zum einen erscheinen immer wieder Berichte, in denen behauptet wird, daß dem Spielleiter hörige Mitspieler quasi als Initiationsritus kriminelle Aktionen getätigt haben sollen; (2) dann wird die Vermischung von Spiel und Realität, was den Kampfaspekt angeht, befürchtet und (3) und schließlich sind die gewalttätigen Inhalte der Spiele als Ursachen für eigenen Gewalttätigkeit in den Blickpunkt geraten. In diesem letzteren Punkt nähert sich die Diskussion derjenigen über Gewalt im Fernsehen und Kino an.

Die Hörigkeit gegenüber dem Spielleiter darf man getrost ins Reich der Schauermärchen verweisen, ähnliches gilt, wie sich unter anderem auch in den oben erwähnten psychologischen Studien andeutete, für die Gefahr des Realitätsverlustes. Offenbar ergibt sich aus Laiensicht eine logische Verbindung zwischen dem Umgang mit verschiedenen Realitäts-Ebenen und solch einer Gefahr. Dabei ist zunächst zu bedenken, daß jeder von uns eine ganze Reihe von unterschiedlichen “Wirklichkeiten” erlebt, neben der Welt der unmittelbaren Sinnes-Erfahrung gibt es auch u.U. die religiöse Erfahrungswelt, das Hineinversetzen in ein Theaterstück, nächtliche Träume und vieles mehr. Niemandem würde einfallen, Personen, die sich an ihre Träume besser erinnern als andere (und daher den Eindruck haben, mehr zu träumen) für gefährdet zu halten, ebensowenig wie Berufsschauspieler, die monatelang in dem gleichen Stück auf der Bühne stehen. Was aus Laiensicht die Verbindung nahelegen mag, ist das Bild schwerer Psychosen wie das der Schizophrenie, bei der die Verbindung zur allgemein verbindlichen Realität gestört erscheint. Nun weiß man, daß solche Psychosen durch eine Vielzahl von Faktoren, die hier zusammenkommen, bedingt sind. Neben genetischen Faktoren kann eine gestörte Familienstruktur und womöglich zusätzliche schwere Belastungen zum Auftreten einer solchen Störung beitragen – ein reges Phantasieleben gehört nach den bisherigen Erkenntnissen jedoch nicht zu den auslösenden oder gar bedingenden Faktoren. Auch hier muß erwähnt werden, daß bei Schizophrenen auf der Gefühlsebene Veränderungen häufig sind, die den zwischenmenschlichen Kontakt und das Einfühlungsvermögen stören.18 Auch hier erscheint es eher schwierig, einen Zusammenhang mit Fantasy-Rollenspiel zu konstruieren.

Nachvollziehbarer sind hier schon die vermuteten Beziehungen zwischen Spielinhalt und allgemeiner Einstellung gegenüber der Gewalttätigkeit. Kämpfe sind ein wesentlicher Bestandteil der meisten Rollenspiele. Die Spannung wird durch Gefahren hergestellt, und die Gefahr tritt häufig in Gestalt von Gegnern auf, die besiegt werden müssen. Die solcherart vorprogrammierten Auseinandersetzungen werden nach vorgegebenen Regeln ausgetragen, was im allgemeinen bedeutet, daß sie durch Würfelwürfe und Additionen von Punkten entschieden werden. Je nach Spielsystem werden die Kämpfe detailliert “ausgefochten” oder durch wenige Würfe entschieden – bei den Details gibt es gruselige und blutige Beschreibungen. Der Kampf endet erfolgreich mit der Vernichtung, Aufgabe oder Flucht des Gegners, oder die eigene Spielfigur wird in Mitleidenschaft gezogen, was bedeutet, daß sie Punkte verliert, beim zukünftigen Spiel Einschränkungen in Kauf zu nehmen hat (vielleicht ist sie durch eine “Verletzung” jetzt geschwächt oder weniger geschickt oder muß das Bett hüten), im Extremfall stirbt sie. In manchen Spielsystemen gibt es die Möglichkeit einer Erweckung, in anderen ist das Spiel mit dieser Figur beendet und der Spieler muß sich eine neue Figur schaffen. Der Verlust einer solchen, zuweilen schon jahrelang gespielten Figur kann als sehr schmerzlich empfunden werden und führt manchmal dazu, daß Spieler sich mit dem Spielleiter oder der Gruppe für einen Zeitraum entzweien.

Wenn man nun fragt, was dieser Gewaltaspekt im Spiel für die Psyche der Spieler bedeuten mag, stellt sich das Problem der Vergleichsgruppe. Interessant wäre der Vergleich mit Personen, die direkt physisch mit Gewalt umgehen, sei es durch Kampfsportarten oder die Mitgliedschaft in Schützenvereinen oder den Wehrdienst. Solche direkten Vergleiche liegen jedoch bislang nicht vor. Die Problematik der vorprogrammierten Gewalttätigkeit hat sich inzwischen insofern in der Spiele-Industrie niedergeschlagen, als für etablierte Spielsysteme immer mehr Szenarien auf den Markt kommen, die geschicktes Taktieren und Konfliktvermeidung ebenso, wenn nicht stärker, durch Punkte belohnen als die gewaltsame Auseinandersetzung. Andererseits ist jedoch auch eine Zunahme an Spielsystemen zu beobachten, für die das Moment der Gewalttätigkeit zentral zur Schaffung einer bestimmten Atmosphäre ist, d.h. Horror-Szenarien und Splatter-Punk. Hier spiegelt sich eine Tendenz, die auch im Bereich Fernsehen und Kino konstatiert werden muß. Ob es sich hier um eine Art “allgemeiner Verrohung” oder den Versuch der Auseinandersetzung mit zunehmend bedrohlicheren Alltagserfahrungen handelt, ist eine Frage, die Soziologen zu beschäftigen hat. Für die konkrete Frage nach den Auswirkungen der Gewalt im Rollenspiel ist festzuhalten, daß real erlebte Gewalt, sei es in der Schule oder auf der Straße, unverhältnismäßig stärkere Auswirkungen haben dürfte. Der letzte Kritikpunkt, der sich auf die Möglichkeit einer Vernachlässigung von Schule und Ausbildung bezieht, läßt sich jedoch nicht ohne weiteres entkräften. In amerikanischen Colleges ist Fantasy-Rollenspiel aus diesem Grunde nicht gern gesehen, ganz im Gegensatz zu sportlichem Engagement, dem eher nachgesehen wird, wenn die übrigen Schulfächer dadurch etwas zu kurz kommen. Zwar ist bedauerlich, wenn solcherart ein summarisches Urteil gefällt wird, anstatt den jeweiligen Einzelfall zu betrachten, aber immerhin ist mit dem Vorwurf des zu großen Zeitaufwandes keine Stigmatisierung oder Kriminalisierung verbunden.





Wie Sie aus meinen bisherigen Ausführungen ersehen haben, gibt es eine große Diskrepanz zwischen dem Forschungsstand zum Rollenspiel und den Berichten in den Medien.

Woran liegt das? Was die Medien angeht, so sind üble Neuigkeiten natürlich wesentlich publikumswirksamer als keine Neuigkeiten. Dem Gesetz der Unterhaltung kann die Differenziertheit der Darstellung zum Opfer fallen19 – außerdem ist es für Außenstehende nicht unbedingt leicht, sich in dem Rollenspiel-Slang zurechtzufinden20 und die Spielregeln auf Anhieb zu durchschauen.

Auch in Deutschland gibt es natürlich ebenfalls Menschen, die aufgrund ihres religiösen Weltbildes empört sind, wenn z.B. biblische Themen und Inhalte quasi frivol als Spiel-Begriffe verwendet werden. Darüber hinaus gibt es leider auch noch Autoren, die mit der Angst von Eltern Geld machen, indem sie möglichst erschreckende Einzelfälle zusammenstellen und als Büchlein verkaufen – vorgeblich um zu warnen und Eltern in Not zu unterstützen. Der Zynismus, der darin liegt, bewußt Verfälschungen vorzunehmen und Familien in Panik zu versetzen, und sie gleichzeitig zur Kasse zu bitten, ist erschreckend. Diese Praxis ist glücklicherweise im Abnehmen begriffen.

Es gibt jedoch auch Gründe im Rollenspiel selbst, die Mißverständnisse nahelegen. Das Auftreten von Rollenspielern läßt sie zuweilen, zumal auf großen Spiel-Zusammenkünften, als eine Horde von Freaks erscheinen, die mit einer für Außenstehende unverständlichen Ernsthaftigkeit Punkte und Vor- und Nachteile von Strategien diskutieren. Das Befremden nimmt jedoch ab, wenn wir uns vorstellen, wie jemand, der von Fußball keine Ahnung hat, Diskussionen von Fußball-Fans erleben muß.

Verglichen mit manch anderem Hobby hat Rollenspielen zunächst den für Eltern und Lehrer augenfälligen Nachteil, daß es nicht auf eine zukünftige Berufstätigkeit vorbereitet, also “nichts nützt”. Auch das gesellschaftliche Ansehen ist nicht gerade hoch. Rollenspieler sprechen nicht nur eine teilweise unverständliche Fachsprache, sie sondern sich zuweilen auch von Mitschülern und Geschwistern ab. Letzteres ist allerdings oft eine Folge des Unverständnisses der Umgebung, manche Rollenspieler sind es müde, sich für ihr Hobby verteidigen zu müssen und gehen der Diskussion aus dem Weg. Als klassische Gegenreaktion einer marginalisierten Gruppe beginnen sie alsdann, aus der Gemeinsamkeit mit anderen Rollenspielern ein neues Selbstbewußtsein zu ziehen und wo sie selbst als Spinner und Romantiker tituliert werden, revanchieren sie sich, indem sie Nicht-Rollenspielern Konventionalität und Einfallslosigkeit unterstellen.

Aus der Sicht passionierter Rollenspieler hat Rollenspiel enorm positive Folgen. Zuweilen wird behauptet, daß es die Intelligenz oder die Kreativität steigere, wofür es leider keine Belege gibt. Auch der Versuch, mittels Rollenspiel-Inhalten verhaltensauffällige Kinder zur Kooperation zu bewegen21, hat beispielsweise keine eindeutigen Ergebnisse gebracht – wie bei ähnlichen Versuchen aus der Sozialpsychologie und Pädagogik22 stellt sich hier das Problem der Verallgemeinerung auf den Alltag – was im Spiel begriffen wurde, wird noch lange nicht auf reale Situationen angewendet.

Es gibt allerdings den Hoffnungsschimmer, daß soziale Kompetenz und Einfühlungsvermögen sowie die Vorstellungskraft durch das gemeinsame Spiel gefördert werden könnten.23 Was sicherlich zunimmt, ist Spezialwissen auf denjenigen Gebieten, die für das Szenario relevant sind, das kann von waffentechnischen Einzelheiten bis zum byzantinischen Hofzeremoniell, von Dschungel-Ökologie bis zu den Hintergründen der Prohibitions-Zeit reichen.





Was ist also zu tun, wenn Ihr Kind oder Ihr Schüler rollenspielt? Der erste Schritt ist natürlich die Informationssammlung. Handelt es sich um ein Live Action Rollenspiel? Falls ja, ist zu fragen, ob der Jugendliche die gesundheitlichen und sportlichen Voraussetzungen mitbringt, um unter freiem Himmel oder in zugigen Burgen herumzutoben.

Zu den wichtigen Informationen gehört natürlich auch, wer die Mitspieler sind, wie oft man sich trifft und was für eine Figur gespielt wird. Ziehen Sie nicht den Schluß vom Charakter der Figur auf den des Spielers24 – gerade für sehr sozial eingestellte Schüler kann es eine Herausforderung sein, eine böse hinterhältige Figur glaubhaft darzustellen. Und um Herausforderungen geht es schließlich im Rollenspiel.

Wenn Sie mehr erfahren wollen, fragen Sie und hören Sie zu. Lassen Sie sich die Stärken und Schwächen der Spielfigur erklären, tragen Sie, wenn Sie können, durch eigene Ideen und eigenes Fachwissen zum Hintergrund der Figur bei, helfen Sie bei Recherchen und fragen Sie, ob Sie mal zuschauen dürfen – wenn Sie vorab etwas über die Spielwelt und die beteiligten Figuren wissen, wird es Ihnen nicht schwerfallen dem Spiel zu folgen. Versuchen Sie nicht, von vornherein vollständig die Regeln zu begreifen, dazu braucht man Zeit und Ruhe. Ein Vorteil des Rollenspiels ist es, vom Lebensalter und Geschlecht der Mitspieler abzusehen, ein 12jähriger Spieler hat in einer Gruppe von 20jährigen keinen Nachteil, sofern er sich an die Spielregeln hält, sondern wird tatsächlich als gleichberechtigt behandelt. Das Gleiche gilt auch für einen 40jährigen.

Mein Appell geht dahin, zu versuchen, vorurteilslos an das Phänomen heranzutreten, und es nicht von vornherein mit Mißtrauen zu betrachten.

Der ursprüngliche Wortlaut der an mich ergangenen Einladung besagte, daß ich auf die Gefahren des Rollenspiels eingehen sollte. Ich habe daher umfangreiche Recherchen zu diesem Thema angestellt, deren Ergebnis, wie Sie gehört haben, darauf hinausläuft, daß Rollenspiel wohl zu Unrecht verteufelt wurde. Trotzdem gibt es natürlich Gefahren, die nicht abzuweisen sind.

Es besteht die Gefahr, daß Schule und Ausbildung vernachlässigt werden – diese Gefahr muß man jedoch gerechterweise bei jedem Hobby im Auge haben, das viel Zeit in Anspruch nimmt oder nehmen kann. Wenn die Schulleistungen nachlassen, kann dies natürlich viele Gründe haben – sollte der Verdacht bestehen, daß zuviel Zeit mit Rollenspiel verbracht wird, läßt sich sicherlich eine Einigung erzielen. Teilweise läßt sich Schulstoff mit Rollenspiel verbinden. Dies gilt für die Fächer Englisch und Geschichte, eventuell auch für die Naturwissenschaften. Damit meine ich nicht, daß der Unterricht als Rollenspiel ablaufen sollte – genauso schädlich wie ein Verbot wäre der Zwang, an Rollenspielen teilnehmen zu müssen – aber z.B. englische Fantasy-Romane oder englische Rollenspiel-Bücher sind eine gute Möglichkeit, Interesse an der englischen Sprache wachzuhalten und den Wortschatz zu erweitern, ebenso wie historische Kenntnisse beim Bauen und Entwickeln einer eigenen Spielwelt unerläßlich sind.

Versuchen Sie also, dieses Hobby zum Wohle des betreffenden Jugendlichen zu nutzen.

Die Alternative wäre ein Verbot, dem wenig Aussicht auf Erfolg beschieden wäre. Zum einen würde es zu einer Isolierung des betreffenden Jugendlichen aus seinem neugewonnenen Freundeskreis führen. Dazu käme womöglich noch Scham über die eigenen “uncoolen” Eltern. Wenn Sie allerdings zu der Ansicht kommen, daß der Jugendliche vor lauter Rollenspiel die Schule oder Ausbildung ernstlich gefährdet, könnte es sich als nützlich erweisen, die Frage umgekehrt zu stellen – vielleicht ist Rollenspiel eine Fluchtmöglichkeit vor unerträglich erscheinenden Belastungen. Wenn Sie sein Hobby aber ohne stichhaltige Beweise anders behandeln als andere Freizeitgestaltungen wie beispielsweise Tanzen oder Sport, wird dies sicher als unfair empfunden. Überdies weiß man mittlerweile, daß Verbote zwar einerseits auf kurze Sicht funktionieren, auf lange Sicht jedoch andererseits geeignet sind, den Reiz des Verbotenen zu erhöhen und letztendlich zur Übertretung zu motivieren. Überdies kann niemandem daran gelegen sein, eine Teilgruppe von Jugendlichen zu stigmatisieren und quasi in den Untergrund zu drängen. Ich hoffe, daß dieser Vortrag dazu beitragen konnte, etwaige vorhandene Befürchtungen zu relativieren und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.




Quellen:

1 Hier eine kleine (unvollständige) Auflistung; in Klammern sind die Herausgeber genannt. Soweit vorhanden, habe ich die deutschen Versionen gewählt: Advanced Dungeons & Dragons (TSR); Auf Cthulhus Spur (Queen Games); Battletech (FanPro); Cyberpunk 2020 (Welt der Spiele); Das Schwarze Auge (Schmidt Spiele); Dungeons & Dragons (TSR); GURPS (Pegasus); Hârnmaster (Mania Products); In Nomine Satanis (Truant Verlag); Kult (Truant Verlag); Megatraveller (Games Designers Workshop); Midgard (Verlag für F&SF Spiele/Klee Verlag); Palladium RPG (Palladium); Paranoia (Welt der Spiele); Power, Plüsch und Plunder (Phase); Rolemaster (Queen Games); RuneQuest (Welt der Spiele); Shadowrun (FanPro); Star Wars (Welt der Spiele); Sturmbringer (Queen Games); Tales from the Floating Vagabond (Avalon Hill); Vampire (Feder & Schwert); Werewolf (Feder & Schwert).
2 Einen ersten Überblick gibt Wolf, R. (1988). Konfliktsimulations- und Rollenspiele: Die neuen Spiele. Köln: dumont taschenbücher.
3 Eine Einführung in den Entstehungshintergrund gibt Schick, L.: Heroic Worlds: A History and Guide to Role-Playing Games. Buffalo: Prometheus Books.
4 Firmen-Mitteilung der Firma TSR, 1994.
5 Pulling, P. (1990). Das Teufelsnetz: Sie wollen unsere Kinder. Und wenn wir uns nicht wehren, ist es zu spät. (orig.: The Devil’s Web, 1989) Marburg an der Lahn: Francke (Larmann-Bücher).
6 Stackpole, M. A. (1990). The Pulling Report.
7 So bei Dürholt, B. (1991). Educatio magica: Fantasy-Spiele – Spiele zum Verderben? (Dokumentations-Edition 19). München: Arbeitsgemeinschaft für Religions- und Weltanschauungsfragen (ARW).
8 Auch im deutschen Fernsehen wurde über den tragischen Fall des rollenspielenden Pariser Internatsschülers Christophe Maltese berichtet. Stellungnahmen von Rollenspielvereinen und auch von den betroffenen Eltern finden sich bei: Guiserix, D. (1994). Le jeu de rôle mis en cause! Casus Belli, 82, 9; Guiserix, D. (1995). La réponse des parents de Christophe Maltese. Casus Belli, 84, 9.
9 Gygax, G. (1989). Role-playing mastery: Tips, tactics and strategies – by one of the people who started it all. London: Grafton Books.
10 Wie ein Spielleiter sich selbst und seinen Spielern zu Erfolgserlebnissen verhelfen kann, beschreibt Holmes, J. E. (1980). Confessions of a Dungeon Master. Psychology Today, 11, 86-94.
11 Ein paar ältere Beispiele sind: Bonilla, E. (1978). Monster Match. Houston City Magazine, 6, 12-17; Adler, J. & Doherty, S. (1985). Kids: The deadliest game? Newsweek, 106, 93; Johnston, M. (1980). It’s only a game – or is it? New West, 5, 32-40.
12 Shuster, W. (1985). Critics link a fantasy game to 29 deaths. Christianity Today, 29, 65-66; Brooke, J. (1985, Aug 22). A suicide spurs town to debate nature of a game. The New York Times, B-1. Eine umfassende Stellungnahme gibt es u.a. von Stackpole, M. A. (1989). Game Hysteria and the Truth.
13 Centers for Disease Control, Violence Epidemiology Branch, Atlanta, GA, 30333
14 American Association of Suicidology, 2459 S.Ash, Denver, Colorado, 80222
15 Maris, R. W.; Berman, A. L.; Maltsberger, J. T., & Yufit, R. I. (1992). Assessment and Prediction of Suicide. New York: The Guilford Press (S.154 f.)
16 Simón, A. (1987). Emotional stability pertaining to the game of Dungeons & Dragons. Psychology in the Schools, 24, 329-332.
17 Borkenau, P. & Ostendorf, F. (1993). NEO-Fünf-Faktoren Inventar (NEO-FFI) nach Costa und McCrae. Göttingen: Hogrefe.
18 Eine kritische Bestandsaufnahme von Theorie und Diagnose der Schizophrenie geben z.B. Leighton, C. & Puente, A. E. (1992). Schizophrenic disorders: Sense and nonsense in conceptualization, assessment, and treatment. New York: Plenum Press. Selbstverständlich bieten auch viele aktuelle Psychiatrie-Lehrbücher umfassende Informationen.
19 vgl. kritisch dazu Cardwell, P. jr. (1993/94). The attacks on role-playing games. Skeptical Inquirer, Vol. 18, No. 2, Winter 1994, 157-165
20 Nagel, R. (1993). Fachsprache der Fantasy-Rollenspiele – Wortbildungselemente und -prozesse im Englischen (Leipziger Fachsprachen-Studien, Bd.7). Frankfurt am Main: Peter Lang.
21 Zayas, L. H. & Lewis, B. H. (1986). Fantasy role-playing for mutual aid in children’s groups: A case illustration. Social Work with Groups, 9 (1), 53-66.
22 Kochan, B. (1981). Kommentierte Bibliographie zur Pädagogik und Didaktik des sozialen Rollenspiels. In B. Kochan (Ed.), Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernens (pp. 255-272). Königstein/Ts: Athenäum. Krappman, L. (1981). Lernen durch Rollenspiel. In B. Kochan (Ed.), Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernens (pp. 31-50). Königstein/Ts: Athenäum. Schmitt, R. (1981). Das problembezogene Rollenspiel in der Vorschule. In B. Kochan (Ed.), Rollenspiel als Methode sprachlichen und sozialen Lernens (pp. 73-91). Königstein/Ts: Athenäum. Wendlandt, W. (Hrsg.) (1977). Rollenspiel in Erziehung und Unterricht.
23 Zwei Diplomarbeiten, die sich mit Zielen und Motiven von Rollenspielern sowie ihren Erwartungen an das Spiel befaßt haben, sind: Ritter, H. (1988). Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen – neue Formen der Gruppenarbeit? sowie Kathe, P. (1987). Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen. Club für Fantasy- und Simulationsspiele e.V.
24 Diesen Fehlschluß findet man zuweilen in inhaltsanalytischen Studien wie der von Thompson, L. (1989). Parental and young adolescents’ views on fantasy role-playing games (FRPGs). Journal of Child and Youth Care, 4, 43-57.



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Quellen über Rollenspiele
Listing of other sources
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